Recht und Unrecht

Über das „es recht-machen-wollen“ in Beziehungen

Es ist erschreckend, zu sehen, wie viele Kinder, Jugendliche, selbst Erwachsene über 40 oder 50 Jahren versuchen, es ihren Eltern recht zu machen. Auch der Versuch, es dem eigenen Chef, dem Liebespartner oder dem Ehepartner recht zu machen, scheint mir nicht zu Glück, Freude und einem erfüllten Leben zu führen. Ob es unsere Haarfarbe, unsere Art, wie wir etwas mitteilen, unsere Lebensauffassung, unser Lebensweg, unser Umgang mit Geld, unsere Überzeugungen zu Geld und vieles mehr ist…, wenn wir meinen, den Wesen um uns herum könnte dies nicht gefallen, versuchen wir oft einen Kompromiss zu machen, aus Angst vor Ablehnung und  verbiegen uns immer mehr …

Daneben gibt es auch Erwartungen, von denen wir meinen, dass Eltern, Partner, Kinder, Chefs sie zu erfüllen haben.

Diese Erwartungen dürfen, damit das Beziehungsdrama gelingt, nicht klar angesprochen, geschweige denn, darf das Einverständnis des anderen eingeholt werden…

Wie wäre es, wenn diese Unklarheiten bezüglich der gegenseitigen Erwartungen der Grund für Stress Streit und Trennung in Beziehungen ist? Am stärksten wirkt dieses Muster wohl auch in der Sexualität. Beide Partner versuchen es dem Anderen recht zu machen. Spielen womöglich dem Partner Freude vor, um die vermuteten Erwartungen zu erfüllen.
Tatsächlich erdulden sie dies, um etwas Anderes zu bekommen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, Willkommen sein, Respekt, Zuwendung, Versorgt werden, Liebe, Kinder …

Wenn dieses Spiel der Erwartungen und das „es dem anderen recht zu machen“ einmal begonnen hat, ist es sehr schwer auszusteigen. Das würde nämlich auch heißen, dass die vermuteten Erwartungen, die jeder versuchte zu erfüllen und auch die Unfähigkeit, seine Erwartungen und Wünsche zu formulieren, sowie die Unehrlichkeit auf den Tisch kommen…
Klar, zur Wahrheit zurückzukehren muss erstmal zu einer Krise führen. Jedoch nur der Weg durch diese Krise, kann zur Heilung führen.

Ich erinnere mich an Beispiele, wo Paare eine sehr feine Beziehung hatten, eine wirkliche Herzensverbindung. Dann schlich sich Unwahrheit ein, über Jahre diese Lüge, dieses „es recht machen wollen“, um damit beim anderen „etwas“ zu bewirken. Jeder spürte mehr und mehr, dass etwas nicht stimmte. Klar faulte die Beziehung. Oft ist dies das Thema in einer unerfüllten Sexualität. Sie spielt ihm etwas vor, er fühlt sich als toller Hecht.

Der Heilungsweg führt durch die Krise: Ein erster Schritt ist, dass die Frau zu ihrer Lüge, ihrem Vortäuschen steht, dazu dass sie sich nicht für ihr eigenes Wohlbefinden eingesetzt hat. Der Mann erkennt, dass er eben nicht der tolle Hecht war, sondern nicht feinfühlig genug, um zu spüren, was die Partnerin wirklich braucht. Oft hat er ignoriert, was er selbst spürte, ja vielleicht war er verwirrt von der Vortäuschung, er hatte es nicht erwartet, wollte es nicht wahrhaben. Beide können von dieser Erkenntnis geschockt sein, auch das Vertrauen ist erstmal gebrochen.

Ich durfte Paare erfolgreich durch diese Krise begleiten. Hier durfte die durch die Unbewusstheit und falsche Angst entstandene „Vortäuschung“ als Störung gesehen und verstanden werden, um dann zu heilen. Entweder geschieht Trennung in dieser Krise, was oft schade wäre, oder die Beziehung katapultiert sich auf eine neue, vorher nicht gekannte Ebene des Miteinanders. Echte Begegnung und wirkliche Ver-ein-igung (aus zweien wird eins) geschieht. Dass eine tiefe Verbindung auf höherer Ebene entsteht mag im ersten Moment überraschen. Dann vielleicht nicht mehr, denn es sind gemeinsame Gewahr-Seins-Schritte. Reifung geschieht, wenn wir dranbleiben und durch die Krise gehen.

Frauen wurden Jahrhunderte darin „trainiert“ sich unterzuordnen, sich in der Sexualität zu verleugnen und es dem Mann zu erfüllen. Im Eheversprechen in der Kirche ist es zum Teil heute noch beinhaltet: Er hat sie zu ernähren, für sie zu sorgen – sie hat ihm zu dienen und die „ehelichen Pflichten“ zu erfüllen. Dies sitzt Frauen oft als Konditionierung tief „in den Knochen“ und bedarf erstmal Erkennen und Bewusstsein darüber und ein genaues Hinspüren, welche Zuwendung es braucht, damit sich das wandelt.

Hier ist es wichtig, dass die Frau lernt, sich und ihre Bedürfnisse kennenzulernen und diese offen, ehrlich und frühzeitig mitzuteilen, nicht erst dann, wenn „Mann“ schon „zu weit“ gegangen ist…

Ein wichtiger Schritt ist in der Regel, dass die Frau lernt mit der Energie des Mannes neu umzugehen und die Sexualität des Mannes kennenzulernen. Sie lernt, ja nennen wir es so, die „Geilheit des Mannes“ anzunehmen, sich somit ihr nicht zu unterwerfen oder zu meinen sich unterwerfen zu müssen. Sie lernt die Verbindung zu Herz und dem ganzen Körper herzustellen, bei sich und beim Mann. Die Aufgabe der Frau ist es, den Mann in tiefere Ebenen des Fühlens, des Begegnens zu führen. Auf diese Weise bringt sie den Mann mit seinem gebrochenen Vertrauen und seiner Angst vor echter Nähe und Sexualität in Verbindung. So schmilzt er in den Händen der Frau.

Jetzt ist der nächste Lernschritt, dass „Frau“ den schmelzenden Mann halten kann. Es gibt nichts zu tun, nichts zu erreichen, nicht zu verbessern – es braucht nur das Dasein, das Präsent-Sein.
Wir meinen oft etwas tun zu müssen, wenn ein Schmelzen der alten Schutzpanzer geschieht, wenn Tränen kommen, wenn sich Schmerz und tiefes Be- und Gerührt-Sein zeigt. Wir meinen dem anderen etwas abnehmen, es ihm leichter machen zu müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Es geht nicht darum, den Schmerz des anderen wegzumachen, ihn uns „einzuverleiben“ oder mit‑zu‑leiden. Ein Schmerz kann sich nur lösen, indem er da-sein darf, willkommen und in Präsenz gehalten ist. Das gebrochene Vertrauen heilt. „Mann“ muss nicht mehr die Maske des „alles im Griff“ – und des „tollen Hechtes“ tragen. Er darf der kraftvolle Mann sein – und der weiche Mann. Sein Nicht‑Wissen, sein „keine Ahnung haben“ ist willkommen. Er darf Hingabe neu erfahren und erleben, darin gehalten zu sein.

Der Mann lernt mit seiner aufgestauten sexuellen Energie bewusst und kreativ umzugehen. Kommt in Frieden mit seiner Bedürftigkeit – die aus ignorierten Bedürfnissen erwächst. Er lernt sich neu kennen, neue Wertschätzung für sich und seine Bedürfnisse. Er erfährt und lernt, wie sie sich erfüllen und was es dazu braucht. Und er darf die Frau neu kennen lernen. Er erforscht und erfährt die Erlebniswelt der Frau neu, auch dadurch, dass sie sich neu und ehrlich zeigt. Das Spiel des „es dem anderen recht machen müssen“ ist vorbei. Wir zeigen uns berührbar, wirklich nackt.


Natürlich können und dürfen wir für den anderen da sein, ihm auch dienen, jedoch in einem, klaren, bewussten Rahmen – und nicht mehr in der Unehrlichkeit. Hieraus erwächst Heilung und Heil-sein. Das ist die Gewahrseins-Reise und Bewusstseinsreise –  das miteinander „in-Liebe-sein“. Hier gibt es keinen Endpunkt, es ist ein stetiges und gemeinsames Weiterforschen und Erkennen des anderen und seiner Selbst. Und klar, werden wir dabei Fehler machen – doch im gemeinsamen Reflektieren darüber, im Austausch mit dem Partner oder der Partnerin, sind es keine Fehler, sondern Lernschritte. Sicher, die Versuchung ist, da wieder in alte Muster zu fallen. Doch wie wäre es hier in einem spielerisch, liebevollen Wettbewerb zu sein? Wem fällt es als erstes auf? Wer hat als erster den Mut, den „Rückfall“ zu thematisieren? Dies bringt Leichtigkeit in das Neue, die Offenheit wächst und führt zum Erkennen, zur Bewusstwerdung und zu einer gemeinsamen Heilungsreise auf eine neue Ebene des Miteinanders.

Und natürlich können wir die Rolle Mann/Frau umkehren. Nur, nach meinem Erleben ist es viel häufiger die Frau, die erduldet. Und ja, auch Mann kann den ersten Schritt machen und diese Erforschungsreise einleiten. Nur wie viel Männer haben diese Reife schon? Frauen sind meist sensibler und womöglich ist es für sie einfacher aus diesem „Vorsprung“ heraus die Aufgabe der Führung zu übernehmen.

Dieses, dem anderen „es recht zu machen“ und unausgesprochene Erwartungen zu erfüllen, haben wir bereits als Kleinkind gelernt, im Heranwachsen, im Kindergarten und in der Schule vertieft. Oft mussten wir es tun, um zu überleben. In den seltensten Fällen wurden wir wirklich begleitet, unser Potential zu entfalten, zu lernen, uns zu erkennen…


Oft haben Erwachsene in ihrer scheinbaren Unvollkommenheit, ihre Neurosen, ihre Ängste an Kindern ausgelebt. Das war so, ist so und wird wohl weiter so sein. Außer, wir sind in einem sehr erwachten Umfeld. Aber auch hier wird unbewusstes Handeln geschehen, auch wenn das vielleicht schneller erkannt wird. Womöglich ist auch gar nichts falsch daran, denn wir machen darin unsere Erfahrungsschritte.
Und wir haben die Wahl: Wir können unter dem Erlebten und Unverarbeiteten unser Leben lang leiden und es an unsere Kinder weitergeben. Oder wir starten die Erwachens-Reise: Erkennen, was wirklich und was Täuschung ist, erkennen die Kette von Opfern im Familiensystem, durchschauen die darin verborgenen Muster – und werden Träger der Erlösung.

Das bedeutet, es anderen „Unrecht“ (nicht recht) zu machen. Es bedeutet nicht, Unrecht zu tun. Es kann jedoch und wird vermutlich, aus der Sicht der anderen Unrecht sein. Denn wir durchbrechen ein Muster oder gar einen alten Familienvertrag.
Einfaches Beispiel: wie oft hört man den Satz: Das ist aber ein eigenwilliges Kind. Oder bei Erwachsenen: Der hat aber einen Sturkopf. Ein Kind, das keinen eigenen Willen hat, ist gebrochen, ein gesundes Kind ist „eigen-willig“, hat einen eigenen Willen. Der Sturkopf eines Erwachsenen kann ein neurotisches Festhalten, es kann aber auch ein gesundes zu-sich-stehen sein.
Jemand der sich den „geltenden“ Normen nicht unterwirft, gilt als eigenwillig.

In meinen Team-Trainings gibt es ein besonderes Thema: Der Wert des Störers.
Jemand der stört, jemand, der scheinbar stört, ist oft jemand mit einer erhöhten Wahrnehmung. Er erkennt sich anbahnende Probleme früher als andere und weist darauf hin. Er „stört“ damit die scheinbare Harmonie. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wenn jemand einer ihm nahestehenden Person auf seinen wachsenden Alkohol oder Zigarettenkonsum hinweist, dann ist er ein Störer. Womöglich hat er eigene Erfahrung gemacht und kann den vorgezeichneten Weg des anderen erkennen und sieht, dass diese Person in zwei oder drei Jahren, wenn sie so weitermacht, zum Beispiel Alkoholiker ist. Jetzt wäre die Umkehr noch leicht. Somit weist er aus Liebe darauf hin und begibt sich damit womöglich ins Kreuzfeuer. Er geht für das Wohl des Anderen ins Risiko. Wegschauen ist erstmal einfacher.

Auch wenn jemand in einem Unternehmen infrage stellt, ob der Ablauf wirklich sinnvoll und zielführend ist, stört er das bestehende System, rüttelt an Gewohnheiten und damit an vermeintlicher Sicherheit. Ich durfte in Unternehmen dazu beitragen, dass der „Störer“ gehört und gewürdigt wird.
Im nächsten Schritt wird dann zusammen untersucht, ob das, was er mitteilt, förderlich ist oder nicht. Entweder der Einwand ist förderlich, oder er erkennt, dass in seinem Gedankengang noch etwas außer Acht geblieben ist. Beides wird gewürdigt. Wenn wir etwas weiterentwickeln wollen, wenn neue Qualitäten entstehen sollen, dann muss das Bestehende infrage gestellt werden. Und der Infragesteller muss nicht die perfekte Lösung haben, bevor er Fragen stellen darf.

Damit machen wir es dem Bestehenden „unrecht“. In einer gesunden Verbindung, egal ob das eine Partnerschaft oder ein Unternehmen ist, ist jede Frage, jedes Infrage stellen willkommen. Auch hier ist es dann wieder der gemeinsame Erkenntnisweg, der auf eine neue gemeinsame Ebene führt. Je spielerischer, und offener wir darin sind, umso leichter, und freudvoller geschieht es. Was geschieht? Das Werden, das Entfalten, die Fülle des-in-Liebe sein. Jedes Vermeiden führt zu Mangel. Bewusst-Sein führt zu Fülle.

Kinder treiben ihre Eltern oft fast, oder auch ganz, in den Wahnsinn, wenn Sie in der „Warum-Phase“ sind. Erwachsene unterliegen dem Irrglauben, sie müssten dem Kind jetzt die Welt erklären. Es ihm recht machen. Dabei haben Sie die Welt oft selbst nicht verstanden. Gibt es jemanden unter uns, der die Welt und das Universum komplett verstanden hat? Kinder fragen „warum?“, weil sie forschen wollen. Sie wollen mit anderen Kindern und Erwachsenen zusammen forschen. Sie wollen den Erkenntnisweg zusammen gehen.
Und sie wollen nicht sogenannte Wahrheiten um die Ohren gehauen bekommen. Sie wollen mit ihrer Frage willkommen sein. Wenn wir Erwachsenen uns darauf einlassen, dann ist es ein freudvolles miteinander mit den Kindern und wir werden dabei mehr lernen, erkennen, als wir uns vorstellen können. Das „warum“ des Kindes nervt uns, weil es uns darauf hinweist, dass wir womöglich selbst etwas nicht verstanden haben. Vielleicht weisen unsere Kinder uns auch darauf hin, dass wir kapituliert haben im Leben und laden uns mit ihrem „warum?“ ein, weiter und neu zu forschen – laden uns ein, das Leben neu zu erkennen und zu leben…

Wie wäre es, wenn wir immer wieder beim Nullpunkt beginnen, neu untersuchen und neu erkennen. Ist das der Schlüssel? Ja, der Schlüssel zu einem erfüllten, bewussten Leben, der Schlüssel zu Liebe, der Schlüssel zum Sein und zu Fülle. Es ist auch der Schlüssel zu echtem Frieden – in uns und um uns.

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